„Ein bisschen ungewöhnlich“[1] – so harmlos wird die Entscheidung um das Verfahren am Molkenmarkt umgedeutet: Der Wettbewerb ergibt keinen Gewinner. Für das Vertrauen in geregelte Prozesse ist solches Vorgehen schädlich, und doch ist es nur ein Beispiel für den Zustand der demokratischen Planungskultur in Berlin. Nach dem offenen Wettbewerb um den Molkenmarkt, bei dem im November 2021 die Teams um OS arkitekter mit einem klimaneutralen Ansatz mit alternativen Baustoffen, nachhaltigen Gebäudekonzepten und einem hohen Anteil an Grünflächen und Bernd Albers Architekten mit historisierendem Ansatz mit Blockrandbebauung, der die historische Stadtstruktur stärker betont einen ersten Preis erhielten, folgte ein Werkstattverfahren mit mehreren öffentlichen Kolloquien. In diesen Kolloquien präsentierten die Teams ihre überarbeiteten Entwürfe, diskutierten mit der Jury und beantworteten Fragen aus der Stadtgesellschaft.
Das Abschlusskolloquium fand am 13. September 2022 statt und beendete das Werkstattverfahren, jedoch ohne Ergebnis. Ursprüngliches Ziel war es, die Entwürfe weiter zu qualifizieren und Empfehlungen für die künftige Entwicklung des Quartiers zu formulieren, doch die Jury konnte sich trotz intensiver Diskussionen nicht auf einen Sieger einigen.
Nach Petra Kahlfeldts Erklärung, dass dies planmäßiges Vorgehen sei, steht der Vorwurf im Raum, dass die Senatsbaudirektorin die Ergebnisse des Preisgerichts und der Öffentlichkeitsbeteiligung umgehen und die weiteren Planungen in Eigenregie durchführen wolle. Kahlfeldt behauptete, es sei von Anfang vorgesehen gewesen, das Werkstattverfahren mit einem „Empfehlungskatalog" zu beenden.
Der Tagesspiegel titelt am 16. September 2022[2]: „Berlins Senatsbaudirektorin überrumpelte Jury mit neuem Vorgehen ". Geplant war, dass das Werkstattverfahren mit einem Siegerentwurf enden sollte. Nach der gescheiterten Juryentscheidung wurde der Text online so angepasst, dass von einer „Qualifizierung der Entwürfe" und einer „Charta Molkenmarkt" die Rede war. Die Senatsverwaltung hat nachträglich die Zielsetzung des Werkstattverfahrens auf der eigenen Website geändert – ein Vorgang, der Fragen nach Transparenz und Verlässlichkeit demokratischer Planungsprozesse in Berlin aufwirft. Durch nachträgliche Anpassungen und Umdeutungen von Verfahrenszielen werden Prozesse ausgehöhlt. Was als Werkstattverfahren begann, endete in einem Katalog „Charta Molkenmarkt“, der vor allem eines tut: politisch selektieren.
Der Molkenmarkt ist kein Einzelfall. Er steht für das Aufeinanderprallen von Planungsideologien. Die demokratisch geprägte Idee der Stadt für alle mit „anstrengenden“ Beteiligungsprozessen, Werkstätten und Aushandlungsprozessen weicht Gestaltungsvorgaben, die eine historische, steinerne Stadt der wenigen Privilegierten herbeisehnt – mit erheblichen Folgen für Teilhabe, Gemeinwohl und das Vertrauen in demokratische Prozesse.
Das Tempelhofer Feld ist der nächste aufgeladene Fall, um den sich die Stadtgesellschaft mit der Politik streitet. Wo einst Flugzeuge starteten, erstreckt sich heute ein Freiraum, den sich die Berliner*innen erkämpft haben – gegen die Pläne des Senats und gegen Investoreninteressen. Nach dem Ende als Flughafen, wurde 2010 das Gelände als öffentlicher Raum geöffnet. Der Volksentscheid „100 % Tempelhofer Feld" 2014 brachte eine klare Mehrheit gegen die geplante Randbebauung. Das Ergebnis mündete in ein Gesetz, das bauliche Veränderung weitgehend ausschließt und Weiterentwicklung an Partizipation bindet. Seit 2023 wird erneut über Bebauung diskutiert. Der Druck wächst – befeuert vom Wohnungsmangel und explodierenden Mieten, aber auch durch parteipolitische Dynamiken. Die SPD positioniert sich mit mehr Neubau: „Bauen, Bauen, Bauen". Initiativen verweisen auf das geltende Gesetz und den Volkswillen, ein neuer Volksentscheid steht im Raum und Narrative gegeneinander.
Die Befürworter einer Randbebauung, darunter Teile der Berliner SPD und Akteur*innen aus Wohnungswirtschaft, argumentieren, dass Berlin neue Flächen für Wohnungsbau erschließen müsse. Sie verweisen auf den akuten Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Das Tempelhofer Feld gilt ihnen als große innerstädtische Reservefläche, auf der schnell und in großem Maßstab neue Wohnungen entstehen könnten. Die Argumentationslogik dahinter: Durch zusätzliche Bauflächen das Angebot steigern und der Preisdruck auf dem angespannten Wohnungsmarkt senken. Schaut man sich die Quadratmeterpreise an, für die Neubau entsteht, bekommt man dabei schnell Zweifel und wird sich potenzieller Auswirkungen auf den Mietspiegel bewusst.
Initiativen wie Architects4THF positionieren sich für Erhalt und behutsame Weiterentwicklung der Freifläche. Die Planer*innen argumentieren, dass das Feld als innerstädtisches Natur- und Erholungsgebiet für Stadtklima, Biodiversität und Lebensqualität essenziell ist. Statt großflächige Randbebauung setzen sie auf kleinteilige Interventionen, die soziale und ökologische Qualitäten stärken, sowie eine breite Bürgerbeteiligung, die Gemeinwohlinteressen ins Zentrum rückt. Wohnraummangel sei besser durch Nachverdichtung und Umnutzung bestehender Flächen zu lösen, ohne auf eines der grünen Herzen der Stadt zu verzichten.
Der Konflikt zeigt einen neuen Faktor in der Debatte: Die Klimakrise, Hitze in der Stadt und die Frage, wem das Privileg von Freiraum zustehen soll. Steht die Schaffung von neuem Wohnraum über dem Erhalt von Freiräumen und ökologischen Ressourcen – oder braucht eine zukunftsfähige Stadt gerade beides, aber in einer neuen Balance? Welche Parameter in der Entscheidungsfindung werden vorangestellt?
Betrachtet man nur den Fall Tempelhofer Feld, könnte man meinen, die Zuspitzung der Wohnungskrise in Berlin wäre die treibende Kraft hinter politischen Entscheidungsmechanismen: Alles muss danach ausgerichtet werden, weitere Mietpreissteigerungen zu verhindern. Wie steht es also um die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“, entstand 2018 aus dem Protest gegen explodierende Mieten und die Geschäftspraktiken großer Wohnungskonzerne.
Was als zivilgesellschaftlicher Widerstand begann, entwickelte sich zur erfolgreichsten Enteignungsinitiative der Bundesrepublik. Am 26. September 2021 stimmten rund 59 Prozent der Berliner*innen für die Vergesellschaftung großer, profitorientierter Wohnungsunternehmen mit mehr als 3.000 Einheiten. Der Auftrag an die Politik war klar: Ein Gesetz soll erarbeitet werden, das die Überführung der betroffenen Wohnungsbestände in Gemeineigentum regelt und Mieter*innen in bestehenden Mietverhältnissen schützt.
Da der Entscheid rechtlich nicht bindend war, passierte: nichts. Die rot-grün-rote Koalition setzte eine Expertenkommission ein, die bis 2023 prüfen sollte, ob eine Enteignung möglich wäre. Das Ergebnis: Ja, sie ist möglich. Verfassungskonform, sofern rechtsstaatliche Kriterien eingehalten werden. Es folgte politisches Vakuum. Trotz rechtlicher Klarheit und breitem Rückhalt in der Bevölkerung blieb der nächste Schritt aus. Kein Gesetz wurde vorgelegt, keine Maßnahme eingeleitet. Die Initiative kündigte daraufhin einen eigenen Gesetzesvolksentscheid an – diesmal mit rechtlicher Wirkung.
Die Fälle zeigen, wie prekär die Verbindung zwischen (direkter) Demokratie und politischer Umsetzung geworden ist. Was braucht es, damit politische Institutionen wieder als durchsetzungsmächtig, verlässlich und gemeinwohlorientiert wahrgenommen werden?
Nachträgliche Anpassungen, Verzögerung oder Relativierung demokratischer Verfahren in der Berliner Stadtentwicklung sind kein Einzelfall, sondern ein erkennbares Muster. Öffentlich wird oft nur über einzelne Akteur*innen berichtet, doch es ist das politische Umfeld, das solche Vorgehensweisen ermöglicht und deckt. Politische Steuerung wird immer häufiger an Marktlogiken delegiert – mit der Folge, dass Planungsziele zugunsten wirtschaftlicher Interessen verschoben werden.
Diese Praxis hat gesellschaftliche Konsequenzen: Wie der Deutschland-Monitor 2024 konstatiert, sind knapp 40 Prozent der Deutschen mit dem Funktionieren der Demokratie unzufrieden. Gleichzeitig äußert laut derselben Erhebung ein Drittel der Bevölkerung, kein Vertrauen in politische und gesellschaftliche Institutionen zu haben.[3] Parallel zu dem deutlichen Verlust des Vertrauens in die Demokratie ist auch das Gefühl politischer Machtlosigkeit gewachsen beziehungsweise der Eindruck politischer Selbstwirksamkeit gesunken: Die Mitte-Studie 2024 stellt fest, dass 27 Prozent es für sinnlos halten, sich politisch zu engagieren.[4] Wenn politische Beteiligung als wirkungslos erlebt wird, wenden sich viele ab – oder radikalisieren sich.
Es braucht Transparenz in den Verfahren, verbindliche Regeln, die nicht nachträglich geändert werden, und echte Inklusion, die Beteiligten das Gefühl gibt, tatsächlich gehört zu werden. Demokratie lebt nicht nur vom Mitreden, sondern vom Gehörtwerden und umgesetzten Mehrheiten. Wer das immer wieder unterläuft, riskiert, dass Beteiligung zum Ritual und Politik zur Farce wird.
[1] Harbusch, Gregor. "Die Verwaltung übernimmt – Entscheidung am Berliner Molkenmarkt." BauNetz, September 14, 2022. https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Entscheidung_am_Berliner_Molkenmarkt_8032794.html.
[2] Roelcke, Teresa. "Molkenmarkt ohne Siegerentwurf: Berlins Senatsbaudirektorin überrumpelte Jury mit neuem Vorgehen." Der Tagesspiegel, September 16, 2022. https://www.tagesspiegel.de/berlin/molkenmarkt-ohne-siegerentwurf-berlins-senatsbaudirektorin-uberrumpelte-jury-mit-neuem-vorgehen-8650324.html.
[3] Hebenstreit, Jörg, et al.: Deutschland-Monitor 2024: Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Demokratie und politische Einstellungen (Berlin: Deutschland-Monitor, 2024). S. 98/106.
[4] Zick, Andreas, et al.: Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23, Bonn 2023.