0.01 Gedanken zur Einführung

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Wohnen ist die soziale Frage unserer Zeit. Dieses Zitat, das sich sowohl Olaf Scholz als auch Horst Seehofer zuordnen lässt, zeigt die Einigkeit des Parteienspektrums in Deutschland, die von der CDU/CSU über die SPD bis hin zu der Linken reicht.¹ Seit 2021 gibt es in Deutschland wieder ein eigens für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen zuständiges Ministerium, das derzeit von Klara Geywitz (SPD) geführt wird. Zu Beginn der Legislaturperiode 2021 wurde ein jährliches Wohnungsbauziel von 400.000 Wohnungen proklamiert, 100.000 davon Sozialwohnungen – hinter dem die Bauwirtschaft 2022 weit zurückblieb.² „Bauen, bauen, bauen!“ lautet also die Devise. Doch die verstärkte Bautätigkeit der vergangenen Jahre konnte die Wohnungsnot bisher nur geringfügig lindern: Mehr als 1,5 Millionen leistbare und angemessene Wohnungen fehlen in Deutschland. Fast die Hälfte der Haushalte in deutschen Großstädten, müssen mehr als 30 Prozent ihres Nettoeinkommens aufwenden, um ihre Miete zu bezahlen.³

Gleichzeitig spitzt sich die Klimakrise zu, zu der die Bauwirtschaft im Jahr 2021 37% der weltweiten CO2-Emissionen beitrug. Die aktuellen Berichte des IPCC und die neuerlich erschienene Publikation des „Club of Rome“ unter dem Titel Earth for All machen deutlich, dass es große systemische Veränderungen braucht, um den komplexen, vernetzten Polykrisen⁴ unserer Zeit zu begegnen. Die Klimakrise ist auch eine Frage der globalen Gerechtigkeit⁵– und (die Produktion von) Wohnraum spielt eine Rolle in dieser Gleichung. Welche gesellschaftliche Vision von ökologisch, ökonomisch und sozial gerechtem Wohnen haben wir und wie können wir diese umsetzen, so dass mehr Menschen Zugang zu leistbarem, angemessenem Wohnraum haben?

Im Rahmen des Bündnisses bezahlbarer Wohnraum versucht die Bundesregierung dies Frage derzeit zu beantworten und setzt dabei vor allem auf Masse statt Klasse.⁶ Im akademischen und klimaaktivistischen Diskurs wird derweil das nicht mehr bauen diskutiert.⁷ Es fehlt eine elementare Perspektive zwischen diesen Polen: Ein realpolitischer Ansatz, der sich ernsthaft mit der Umsetzbarkeit von leistbarem, qualitativ hochwertigem Wohnraum auseinandersetzt und ihn als architektonisches Projekt versteht.

Die Krisen der Weimarer Republik

Auch vor knapp 100 Jahren sah man sich mit Schwierigkeiten auf dem Wohnungsmarkt konfrontiert – wenn auch anders gelagerten. In der Weimarer Republik war der Mangel an Wohnraum nach dem Ersten Weltkrieg verheerend. Hygienische Standards des Wohnungsbaus, die uns heute als selbstverständlich gelten, waren keine gängige Praxis. Die Menschen in den überbelegten Einzimmerwohnungen und Mietskasernen hausten viel eher, als dass sie wohnten, viele Menschen waren schlicht obdachlos.8

Im Artikel 155 der Weimarer Reichsverfassung wurde 1919 das Ziel formuliert, „jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu sichern.“9 Im Rahmen dieser politischen Zielvorgaben dehnte sich die Architekturpraxis bis zum Ende 1920er-Jahre zwischen der Politisierung der Wohnungsfrage und der funktionalen Optimierung insbesondere durch Verkleinerung von verbilligtem Wohnraum auf.10

Der 1879 in Russland geborene und ausgebildete Architekt Alexander Klein, ist Teil der Architektenschaft, die sich zu dieser Zeit intensiv mit den räumlichen und politischen Problemstellungen des Wohnungsbaus in Deutschland auseinandersetzte. Klein wandte sich zwischen 1920–1933 in unterschiedlichen Positionen – als praktizierender Architekt, als Baurat in Berlin, als Mitglied der Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen (RFG) und im Rahmen seiner Forschung – dem Thema des Kleinstwohnungsbaus zu.

Klein entwickelt im Kontext der Weimarer Republik eigene Grundrisstypen und forscht parallel an Verfahren und methodischen Herangehensweisen, mit dem Ziel Grundrisse objektiv zu bewerten. Kleins Arbeit zeigt einen Weg der Verwissenschaftlichung und Systematisierung von Architekturpraxis zwischen Raumqualität und Wirtschaftlichkeit auf, auf den es sich zu blicken lohnt – auch heute noch. Sein Beitrag zur Bewertung und Entwicklung von Grundrissen ist sowohl methodisch als Werkzeug für entwerfende Architekt*innen11 von Relevanz als auch aus politischer Perspektive aktueller bau- und wohnungspolitischer Zwänge, wie Ressourcenknappheit und Leistbarkeit.Klein reflektiert seinen eigenen modus operandi der Entwurfspraxis mit Fokus auf die Grundrissentwicklung und leitet daraus zeichnerische und numerische Methoden ab, die einen direkten Qualitätsvergleich und die Verbesserung von Grundrisstypen ermöglichen sollen.12 Auf der Suche nach Objektivität entwickelt er

damit eine Grundlage zur Bewertung, Datenerhebung, Wissensgewinnung und -erweiterung und ist seiner Zeit damit voraus. Klein strebt mit seinem Ansatz selbst unter großen ökonomischen Restriktionen ab 1930 nach dem räumlichen Qualitätsmaximum, das die Nutzer*innen als Faktor mitdenkt. Wirtschaftlichkeit denkt Klein nicht im Sinne einer Profitmaximierung, sondern im Sinne einer realpolitischen Vision des Wohnens: Wie lassen sich auf wenig Raum, mit begrenzten Ressourcen möglichst viele gute Wohnungen für die unterschiedlichen Nutzer*innenbedürfnisse herstellen? Eine Frage die heute nicht an Aktualität verloren hat.

Relevanz heute

Natürlich lässt sich Kleins Methode nicht 1:1 in die Gegenwart übersetzen. Heute sehen sich Planer*innen konfrontiert mit einem Zusammenspiel aus der Klimakrise, dem seit den 60er Jahren durch die Neoliberalisierung anwachsenden Druck auf bzw. durch den Immobilienmarkt, und einer Vielzahl weiterer Parameter, die eine komplexe Grundlage für die Entscheidungsfindung im Architekturentwurf liefern. Doch die grundlegende Frage, wie eine realpolitische Lösung im Grundriss zwischen maximaler räumlicher Qualität, Leistbarkeit für die Nutzer*innen und wirtschaftlicher Produktion aussehen kann, besteht weiterhin.

Obwohl die Auseinandersetzung mit dem Grundriss seit jeher als eine zentrale Fähigkeit von Architekt*innen gilt, gibt es heute kaum oder nur wenige systematische Ansätze, die über Grundriss-Sammlungen oder die Standardisierung des menschlichen Körpers13 hinausgehen. Seien es die technologischen Fortschritte der 1960er-Jahre oder die Ansätze der algorithmischen Planungspraxis heute: abseits neuer Werkzeuge, die Planer*innen heute zur Verfügung stehen, hatten diese Entwicklungen nur geringe Auswirkungen auf eine Verwissenschaftlichung oder Wissensansammlung und Verwaltung der Architekturpraxis.

Die Auseinandersetzung mit Klein ist also ein Übersetzungsprozess, wie Kleins Arbeit heute einzuordnen und neu zu lesen ist. Seinen Spuren zu folgen, heißt für mich daher auch, mich mit den Wissensstrukturen der Architekturpraxis als solche auseinanderzusetzen. Welche Faktoren lassen sich überhaupt messen, wissenschaftlich erfassen und nach qualitativen Kriterien ordnen und (wieder)anwenden?

Damit ist dieses Forschungsprojekt ein Versuch, den Mythos des kreativen Genies zu entzaubern, der mit seinem weißen Blatt Papier immer wieder bei Null beginnt und auf den Kuss der Muse wartet. Sich nicht mit der Leerstelle der Grundrisswissenschaften auseinanderzusetzen, heißt, anderen Akteur*innen dieses Feld zu überlassen. Wenn Architekt*innen ihre Relevanz für die Planung nachhaltigen, leistbaren Wohnraums zurückgewinnen wollen, muss der Faktor der Wirtschaftlichkeit (wie ihn Klein versteht) zurück in die Gleichung: Wie beurteilen wir räumliche Qualität heute nach objektiven Kriterien? Die Leerstelle der wissenschaftlichen Betrachtung in der Architektur, die Gestalter*innen bewusst haben entstehen lassen, kann zum Ansatzpunkt für Wandel werden.

Um diese große Vision und die Fragen dahinter nach einer zeitgenössischen Neuausrichtung der Architekturpraxis und Methodik ins Auge zu fassen, ist die detaillierte Auseinandersetzung mit Kleins Arbeit der erste Schritt. Wie genau die Methode funktioniert und wie seine Arbeit in die Herausforderungen seiner Zeit eingebettet war, ist die zentrale Frage, die im Folgenden geklärt werden soll.

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Quellen

[1] Vgl. dazu BMI, 2020 und SPD, 2022.
[2] 2021 wurden rund 293.000 Wohnungen neu gebaut, 4,2 % weniger als noch im Jahr zuvor. Insgesamt litt die Bauwirtschaft ab 2020 an unterbrochenen Lieferketten aufgrund der Coronapandemie, äußerst volatilen Baustoffpreisen, dem Fachkräftemangel in Deutschland, sowie einem Genehmigungsstau in der Verwaltung. Durch die Anhebung der Leitzinsen und die damit einhergehenden Anhebung der Bauzinsen im Jahr 2022 ist davon auszugehen, dass die Bauwirtschaft 2022–2023 schrumpft. Die Zahlenreihen des statistischen Bundesamts zeigen selbst in den wirtschaftlich stabilen Jahren 2014–2020 nur einen moderaten Anstieg von 245.000 auf 306.000 fertiggestellter Wohnungen. Vgl. dazu Statistisches Bundesamt (Destatis), 2022
[3] Holm/et al., 2021. S 9 f.
[4] Der Begriff der Polycrisis (Polykrise) wird im aktuellen Diskurs vom Wirtschaftshistoriker Adam Tooze geprägt. Tooze griff die Bezeichnung von Jean-Claude Juncker auf, der diese im Kontext des Jahres 2014 verwendet: Russlands erster Invasion in der Ukraine, durch den Syrischen Bürgerkrieg ausgelöste Fluchtbewegungen nach Europa, die Staatsschuldenkrise in Griechenland, Brexit, und die Wahl von Donald Trump zum US-amerikanischen Präsidenten fallen zusammen. Juncker nimmt die Idee der Polykrise wiederum bei Edgar Morin auf, einem französischen Komplexitätstheoretiker. Die Bauwirtschaft ist auf mehreren Ebenen betroffen (siehe dazu auch Fußnote 1): Gebrochene Lieferketten, Leitzinsanhebung, etc.
[5] Dixson-Declève/et al., 2022. S 101 ff.
[6] Unter dem Ziel der 400.000 Wohnungen werden im Maßnahmenpapiers vom 12.10.2022 klimagerechter und ressourcenschonender Wohnungsbau, Nachhaltige Bodenpolitik, Begrenzung von Baukosten und die Prozessbeschleunigung von der Planung bis zur Realisierung als Schwerpunkte formuliert. Qualität wird diametral gegenüber der Bezahlbarkeit von Wohnraum als Aspekt in einer Kosten-Nutzen-Abwägung betrachtet. Zum genaueren Verständnis von architektonischer Qualität findest sich keinerlei Hinweis. Vgl. BMWSB, 2022. S 16
[7] Bspw. im Rahmen von A Global Moratorium on New Construction, eine Initiative von Charlotte Malterre-Barthes in Kollaboration mit Brandlhuber+ oder in der Streitschrift von Daniel Fuhrhop Verbietet Das Bauen! –  Eine Streitschrift. Oekom, München 2015.
[8] Statistische Daten sind für diesen Zeitraum nicht zuverlässig vorhanden. Wolfgang John schätzt, dass 1930 ca. eine halbe Million Menschen (0,7% der Bevölkerung) keine eigene Unterkunft hatte. John, 1988, S 279
[9] Huber 1992. S 151 ff., sowie Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag, 2020. S 4
[10] Kuchenbuch, 2010. S. 97
[11] Im Rahmen der Arbeit wird gegendert, soweit dies ohne historische Verfälschung möglich ist. Die (Re-)Konstruktion einer Realität, die es in dieser Form der weiblichen Präsenz nicht gab, soll damit vermieden werden. Da sich ein großer Teil der Arbeit auf die 1920–1930er-Jahre bezieht ist die Schreibweise entsprechend nicht stringent, sondern so gewählt, dass die gesellschaftliche Realität situationsspezifisch möglichst unverfälscht abgebildet wird.
[12] Vgl. AK-1927_WMB-11-7, S. 296, 298.[13] Die Grundlagen für die Bauentwurfslehre nach Neufert – eine Publikation, die noch heute eines der Standardwerke an Architekturhochschulen ist – entwickelte sich in den 1920er Jahren (vgl. dazu Meister, 2020. S 167). Auch Neufert publiziert in WMB und ist mit Kleins Arbeit vertraut. Er schreibt 1931: „Hier ist durch die Methode Klein die Grundlage geschaffen für eine wissenschaftliche Bauprüfung, die ungeahnte Möglichkeiten eröffnet und eine wichtige Epoche darstellt auf dem Wege zu wirklicher Sachlichkeit.“ Neufert, 1931. S. 32

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