Eingebettet in den sich wandelnden gesellschaftspolitischen Kontext weg von der Klassen- hin zur Massengesellschaft, wandelt sich auch das politische Verständnis von und der Umgang mit Wohnraum in der Weimarer Republik eklatant.
Bereits im Kaiserreich um 1870 stellte man die Wohnungsnot in deutschen Städten fest.1 Ein Zustand, der bis in die Weimarer Zeit hinein anhielt und sich durch anhaltende Urbanisierung und Krisen verschärfte, insbesondere durch den Ersten Weltkrieg. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts verzeichnete Berlin einen bemerkenswerten Bevölkerungszuwachs, der die Einwohneranzahl von 170.000 auf 1.950.000 ansteigen ließ. Im Jahr 1920 war Berlin mit rund 3.900.000 Einwohner*innen eine der am dichtesten besiedelten Städte der westlichen Welt.2
Das Schlagwort „Wohnungsnot“ hatte anhaltend Konjunktur – wie es Clemens Zimmermann treffend fasst –, besonders im Bereich der Kleinwohnungen herrschte Unterversorgung.3 Bereits vor dem Ende der Monarchie führten die Missstände zu Sozialkritik und Organisation beispielsweise mit den Boden- und Wohnreformbewegungen oder in den ersten Bestrebungen von Ärzten, neue hygienische Grundstandards im Wohnungswesen zu etablieren. In den 1910er-Jahren kam zur Knappheit der Wohnungen zusätzlich ein Anstieg der Mieten hinzu, was den Druck auf die Bevölkerung weiter erhöhte und die Politik zum Handeln zwang.4
Private, marktwirtschaftliche Bestrebungen, angetrieben durch Bau- und Bodenspekulation der Kaiserzeit, konnten den großen Bedarf an Wohnraum in den Städten nicht decken. Der Erste Weltkrieg 1914–1918 und seine Nachwirkungen führten zu einer weiteren Zuspitzung der Verknappung, sodass massives staatliches Eingreifen unausweichlich wurde, um soziale Spannungen nicht eskalieren zu lassen. Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass sich in dieser Periode das staatliche Handeln auf mehreren Ebenen im Wohnungswesen ausdehnt. Neben der Bestrebung, mehr Wohnraum durch Baumaßnahmen bereitzustellen, wurde die Bewirtschaftung von Wohnraum kontrolliert und die Gesetzesgrundlagen des Mieter*innenschutzes geschaffen.5Im Interesse der öffentlichen Sicherheit und des sozialen Friedens wurde 1916 der erste Mietenstopp angeordnet und ab 1917 insgesamt drei Mieterschutzverordnungen erlassen, die sich auf Kündigungsschutz, Kontrolle künstlicher Verknappung und Mietpreisbegrenzung fokussierten.6 Die gesetzlichen Maßnahmen gelten als die Vorläufer heutiger legislativer Mechanismen zum Mieterschutz, wie der Mietpreisbremse.7 Lisa Vollmer hebt in ihrer Analyse hervor, dass sich bereits hier „das klassisch (west-)deutsche Modell der Wohnraumversorgung abgezeichnet: Eingriffe in den Wohnungsmarkt erfolgen nur, wenn die Wohnungskrise den gesellschaftlichen Frieden bedroht.“8
Im sozialpolitischen Kontext ist die Weimarer Republik als Wende hin zum gemeinwohlorientierten Wohnen zu verstehen und als Wegbereiter der strukturellen Grundlage des heutigen sozialen Wohnungsbaus einzuordnen. Der Staat greift bewusst mit einer Reihe von einschneidenden und stark lenkenden gesetzgeberischen Setzungen ein. Im Rahmen der Wohnungszwangswirtschaft ab 1918, die noch im Rahmen der Kriegswirtschaft zu lesen ist, wurde sogar die Belegung und Zuteilung von Wohnungen staatlich geregelt.9 Die zwangswirtschaftlichen staatlich verordneten Bewirtschaftungsmaßnahmen wurden Mitte der 1920er-Jahre wieder aufgehoben10 und gingen über in eine dauerhafte sozialstaatliche Interventionspolitik des verstärkten Mieterschutzes sowie Mietpreisegrenzen.11
Der Art. 155 Weimarer Reichsverfassung ab 191912
Der Stellenwert der Überführung der Prinzipien des Mieter*innenschutzes in eine ordnungspolitische Grundlage im Sinne der Integration in die Weimarer Reichsverfassung ist hervorzuheben.13 So wurde bereits 1919 das Ziel formuliert „[…] jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu sichern.“Auch die Sozialbindung von Eigentum, die heute im Deutschen Grundgesetz unter Artikel 14(2) als „Eigentum verpflichtet“14verankert ist, findet hier das erste Mal Erwähnung. Diese in der Weimarer Republik angestoßenen Gesetzgebungsprozesse wirken bis in die heutige Verfassung und damit in die aktuelle Wohnungspolitik nach. Das Deutsche Grundgesetz kennt heute allerdings kein explizites Recht auf Wohnen – diesbezüglich ist die Weimarer Reichsverfassung aus heutiger Perspektive als äußerst progressiv zu bewerten.15
Artikel 155.
Von der Hauszinssteuer (1924–1930/31) über den Black Friday (1929) zum Ende der Weimarer Republik
In den frühen 1920er-Jahren entwickelte sich aufgrund der finanziellen Überbelastungen eine Hyperinflation durch Kriegsreparationszahlungen. Das staatliche Eingreifen und Regulieren führte in Kombination mit steigenden Baukosten und Ressourcenknappheit zu geringeren Profitaussichten, und damit insgesamt zu geringeren Anreizen für die Privatwirtschaft zur Beteiligung am Wohnungsbau. Die Inflationsspirale der Geldentwertung entfaltete ihre Wirkung und brachte private Investitionsströme in den Wohnungsbau zum Erliegen.16 Ein aktives staatliches Eingreifen auch auf der Ebene der Baufinanzierung und -förderung wurde unabdinglich.
Neben den beschriebenen Markt- bzw. Inflationsmechanismen, die zum Abebben der Investitionsströme führen, klingen die Bewertungsmuster und Argumentationslinien der Bauwirtschaft aus der heutigen Perspektive seltsam vertraut. Auch räumliche-gestalterische Faktoren spielen dabei eine Rolle: Die Erstellung von Klein- und Kleinstwohnungen wird von Bauunternehmern als wenig attraktiv bewertet, da mit Überbelegung und eventuellen Schwierigkeiten bei der Mieteintreibung zu rechnen ist. Hinzu kommen die höheren Erstellungskosten bzw. die geringere zu erwartende Gewinnmarge. Eine kompliziertere Grundrissgestaltung und die zusätzlichen für Flure, Treppenhäuser etc. vorzusehenden Flächen führen zu weniger vermietbarer Fläche. Größere Wohnungen zeichnen durch bessere Rentabilität und einfachere Handhabung aus.17
Erst mit der Währungsreform 1923 und der Neustrukturierung der Kriegsschulden nach dem Dawes-Plan 1924, der die Aufnahme von US-Krediten ermöglichte, kam es zu einer wirtschaftlichen Stabilisierung.18 Dennoch erholte sich der private Bausektor nicht. Zwei hauptsächliche Agenden wurden von hier an vorangetrieben, um der Wohnungsknappheit zu begegnen: Ein Weg zur Finanzierung der stattlichen Wohnungsbauprogramme musste gefunden werden, während gleichzeitig die Kosten von Wohnraum durch Typisierung, Rationalisierung und Reduzierung gesenkt werden sollten.19Als wichtiges Finanzierungswerkzeug erwies sich dabei die Hauszinssteuer, die eine umfassende Wohnungsbauförderungen erst finanziell ermöglichte, auch wenn die Steuer nur zur Hälfte für Bautätigkeiten eingesetzt wurden.20Die Hauszinssteuer, die sich auch als Geldentwertungsausgleichssteuer verstehen lässt, war eine Sondersteuer, die die Inflationsgewinne der Haus- und Grundbesitzer durch Entschuldung ausgleichen sollte.21 Durch die Geldentwertung wurden Bürger*innen ohne immobil(i)en Besitz enteignet, während Haus- und Grundbesitzer ebenso wie der Staat durch die gleichzeitige Schulden-Entwertung entschuldet wurden.22 Mit den Mitteln wurden die dringend nötigen umfassenden Neubautätigkeiten angestoßen, die in ihrer Programmatik und Formensprache natürlich auch die politischen Ideale der jeweiligen Akteur*innen widerspiegelten, wie es Günther Schulz herausarbeitet: „Beispielsweise errichtete die Linke vornehmlich Siedlungen des Neuen Bauens, mit den Merkmalen Einheitlichkeit, Gleichheit, Kubus und Flachdach; nationale und konservative Kräfte hingegen konzentrierten sich auf konventionelle Formen: architektonische Unterschiedlichkeit, Satteldach und Sprossenfenster.“23
Vom Beginn der Weimarer Republik an bis 1930 wurden zwischen 75–90% der Wohnungen in städtischen Ballungsräumen durch Mittel aus der öffentlichen Hand errichtet. Der Umverteilungsmechanismus durch die Hauszinssteuer und die Etablierung von gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften markiert damit die politische Abwendung von der privaten Wohnraumversorgung und die Etablierung einer Wohnraumversorgung mit gemeinnützig, kommunal und genossenschaftlich orientierten Akteuren.24 Die Bauten der öffentlich geförderten, gemeinnützigen oder genossenschaftlichen Bestrebungen bilden bis heute den Großteil des Wohnungsbestandes und damit die urbane Grundstruktur Deutschlands.25
In der Phase der wirtschaftlichen Depression ab 1929 brach die Bautätigkeit mit der einsetzenden Rezension ein und wurde wieder einer rigiden Sparpolitik unterworfen. Insgesamt sind die Wohnverhältnisse in Zeiten der Weimarer Republik nicht nur als knapp in jeglicher Hinsicht zu beschreiben, sondern trotz Verbesserungsbestrebungen katastrophal, besonders für die einkommensschwache Schicht. Neu gebaut wurde eher für kaufkräftige Schichten, Klein- und Kleinstwohnungen schenkte man erst Ende der 1920er-Jahre überhaupt Beachtung.26
In der Mietskaserne manifestiert sich das Ergebnis des Zusammenspiels aus zu wenig Bautätigkeit, marodem, weil durch den Krieg zerstörtem Bestand und gleichzeitig ausbleibender Instandhaltung und prägt noch heute unsere Vorstellung von inhumanen Wohnverhältnissen.27 Zwischen 1918 und 1935 fehlte es nach Schulz an 700.000 bis zu 1,5 Millionen Wohnungen28, während im jährlich durchschnittlich dieser Jahre nur ca. 177.000 Wohnungen neu errichtet werden konnten.29Gleichzeitig wurden ambitionierte Großsiedlungsprojekte vorangetrieben, neue Qualitäten etabliert und experimentiert. Wohnungsbau wurde zur politischen Agenda der Zeit. Der Faktor Mensch wurde Teil der Planungspraxis und es entwickelten sich neue fortschrittliche Leitbilder in der Architektur – wenn auch basierend auf und verschränkt mit vielen Stereotypen. Die Werte und Ideale aus Zeiten der Weimarer Republik – gegossen in formale Planungskriterien – begleiten Architekt*innen noch heute, wenn sie Planungshandbücher wie die Bauentwurfslehre nach Neufert in die Hand nehmen.30
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Quellen
[1] Vgl. Zimmermann, 1991. S 122ff.
[2] Statistische Daten für das 19. Jahrhundert aus dem Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, Berlin 1920; für 1920 aus Statistisches Landesamt Berlin, Berlin 1999/2000.
[3] Vgl. Haerendel, 1999. S 101
[4] Vgl. Zimmermann, 1991. S 123
[5] Vgl. Haerendel, 1999. S 101ff.
[6] Vgl. Schulz, 1993. S 15f., Berliner Mieterverein, 2017, sowie Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag, 2021. 4ff.
[7] Entsprechend §556d BGB Die Mietpreisbremse gilt in Form von Begrenzung der Wiedervermietungsmieten seit 2015. Bei erneuter Vermietung darf maximal ein Preisaufschlag von 10 Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete geschehen. Vgl. dazu Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag, 2018.
[8] Vollmer, 2019. S 139 und Schulz, 2016.
[9] Vgl. Vollmer, 2019. S 138f., und Schulz, 1993. S 15ff.
[10] Vgl. Vollmer, 2019. S 138f.
[11] Schulz, 2016.
[12] Huber 1992. S 151 ff.
[13] Harlander, 2018. S 2955
[14] Der vollständige Art. 14 (2) GG lautet: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
[15] Vgl. Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag, 2019. S 4
[16] Vgl. Schulz, 1993, S.154–155
[17] Vgl. Haerendel, 1999. 102
[18] Vgl. Schröteler-von Brandt, 2014. S 185.
[19] Schröteler-von Brandt, 2014. S 186
[20] Vgl. Stöhner, 1976. S. I, und Ibid. Die andere Hälfte der Steuer floss in den allgemeinen Staatshaushalt. Sowie Vgl. Harrlander, 2018. 2955 nach Ruck, Michael: Die öffentliche Wohnungsbaufinanzierung in der Weimarer Republik. In: Schildt, Axel/Sywottek, Arnold (Hrsg.): Massenwohnung und Eigenheim. Frankfurt, 1988. 150–200
[21] Vgl. Schulz, 2016.
[22] Schröteler-von Brandt, 2014. S 186
[23] Schulz, 2016.
[24] Vgl. Harrlander, 2018. 2955. nach Saldern, Aldelheid: Häuserleben. Zur Geschichte städtischen Arbeiterwohnens vom Kaiserreich bis heute. In: Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, Bonn 1995. 130. Ebenso: Schröteler-von Brandt, 2014. S 181f.
[25] Vgl. Schröteler-von Brandt, 2014. S 182.
[26] Vgl. Haerendel, 1999. S 115
[27] Vgl. Schulz, 2016.
[28] Vgl. Schulz, 1993, S.12. Da keine gesicherten statistischen Daten aus dieser Zeit vorliegen, beruhen alle Angaben auf ungefähren Schätzungen. Siehe dazu auch: Haerendel, 1999. S 193
[29] Vgl. Schulz, 1993. S 13
[30] Vgl. Meister, 2020. S 167ff.
[31] Vgl. Haerendel, 1999. S 114
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