Diese Ausgabe von LAMA fragt nach den Anforderungen, die eine zeitgemäße und qualitativ hochwertige, gesellschaftsbildende Architekturpraxis erfüllen soll. Klar ist, dass es sicher nicht die eine Antwort oder die eine Lösung auf eine Frage einer solchen Größenordnung gibt. Vielmehr stellt sich mir die Frage, welche Ebene der Betrachtung Gestalter*innen wählen, wenn sie sich über die Neuausrichtung der eigenen Praxis Gedanken machen. Wie im Entwurfsprozess, spielt der Maßstab, mit dem man sich einer Fragestellung annähert, eine erhebliche Rolle für den Lösungsansatz.
Question the Brief
Wenn wir heute über Architektur als raumbildende Praxis sprechen und nachdenken, passiert das genauso wie in vielen anderen Branchen in den komplexen Zusammenhängen eines globalen Maßstabs: Die in der kürzlich fertiggestellten Neuen Nationalgalerie in Berlin verbauten Glasscheiben wurden in extragroßen Überseecontainern um die halbe Welt geschifft, weil diese Größe nur noch in China produziert wird. Die Weltmarktpreise für Holz, die mitunter durch geopolitische Faktoren stark nach oben getrieben wurden, pendeln sich gerade wieder ein – nachdem viele mittelständische Unternehmen an den extremen Schwankungen zerbrochen sind. Sandabbau im Rahmen der Zementherstellung – der wohl bekannteste „unangenehme Nebeneffekt“ des Bauens – fand unlängst sogar Erwähnung im Programm von Jan Böhmermann.[1] Die Schattenseiten des Bauens als Format der Popkultur.
Die Aufzählung lässt sich beliebig erweitern und um andere Themenkreise ergänzen. Klar wird: Bauen lässt sich heute genauso wenig wie andere Branchen abseits globaler Zusammenhänge betrachten. So wie unser gesamtes ökonomisches System basiert Architektur auf der Ressourcenausbeutung unseres Planeten. Allzu oft ist diese systemische Einbettung von Architektur – vom Abbau der Ressourcen, über Kapitalströme am globalen Immobilienmarkt, bis hin zu politischer Manifestierung von Machtverhältnissen durch Gebautes – eine unhinterfragte und unreflektierte Ausgangsbasis des Schaffens von Architekt*innen.
Das Nachdenken über neue Ansätze der Architekturpraxis fängt jedoch genau hier an: bei den systemischen Grundpfeilern, auf denen die Arbeit von Planer*innen beruht. Ohne das Vermögen, zu verstehen, in welchen Kontexten Planung und Bauen stattfindet, ohne aktiv zu reflektieren, dass unsere Existenz an endlichen Ressourcen hängt, die wir immer schneller übernutzen,[2] wird es uns nicht gelingen, Architekturschaffen fundamental neu auszurichten.
Stop Building?
Die materielle Dimension von Bauprozessen und die Einbettung in die ökonomischen Logiken unserer Welt sowie damit verbundene Verantwortungen werden im Diskurs um die Klimakrise vermehrt thematisiert und lassen sich nicht länger ignorieren. Was Donna Haraway als „the appropriation of nature as resource for the productions of culture“[3] bezeichnet, spiegelt sich auch in unserer gebauten Umwelt wider, die von den globalen, neokolonialen Modi des Extraktionskapitalismus geprägt ist. Die Folgen sind sichtbar, und immer deutlicher auch spürbar.
Der Bau und Betrieb von Gebäuden ist für rund 38 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen[4] verantwortlich und trägt damit wesentlich zu den globalen Umweltbelastungen bei. Diese Erkenntnis bewegt immer mehr Menschen in der Branche dazu, das eigene Handeln zu überdenken. Waren der inflationäre Gebrauch des Wortes „Nachhaltigkeit“ sowie technologische Lösungen die bisherigen Gradmesser für „Umdenken“, stellen sich nun auch Architekt*innen systemische Fragen. Als gesetzt geltende Grundannahmen der Branche werden zunehmend zur Diskussion gestellt, da immer klarer wird, wie umfassend wir unser Handeln verändern müssen, um dringend notwendigen Wandel herbeizuführen.
Als im März 2020 der Aufruf von Bruno Latour zirkulierte,[5] den durch die Pandemie verursachten Moment des Stillstands zu nutzen, um den modus operandi unserer Wirtschaft zu überdenken, ging es auf vielen Baustellen weiter wie bisher. Der Grundgedanke des Innehaltens und Reflektierens – und die Tatsache, dass es diesen Moment im Bausektor eben gerade nicht gab –, führte zur Initiative Global Moratorium on New Construction.[6]
Mit dem provokanten Vorschlag, jegliche Form des Neu-Bauens über einen begrenzten Zeitraum vollkommen einzustellen, eröffnete das Format in mehreren Runden zu unterschiedlichen Schwerpunkten – Stop Construction?, Pivoting Practices, Non-Extractive Design, Seeking Policy – den Diskussionsraum für ein interdisziplinäres Überdenken des status quo der Produktionsbedingungen in der Architektur: Is new construction necessary? Stop Building!
Architecting beyond Materialisation
Was würde es also für Architekt*innen bedeuten, nicht mehr zu bauen? Ist das überhaupt vorstellbar? Lassen wir uns auf den Gedanken ein: Wo und wie siehst du dich als Architekt*in, wenn du nicht mehr baust? Was sind dann deine Aufgaben? Vermutlich erzeugt allein der Gedanke inneren Widerstand oder zumindest Verwunderung.
Die Vorstellung des „Weniger“ oder gar „Nicht-Tuns“ kollidiert mit den Logiken unseres kapitalistischen, von Wachstum getriebenen Wirtschaftssystems. Rütteln wir an diesem System, heißt das nichts weniger als tief verwurzelte Grundideen – wie beispielsweise die des homo oeconomicus – in Frage zu stellen. Die ökonomische Ideengeschichte ist geprägt von eben diesem egoistischen Leitbild des Menschen, der in jeder Situation darauf bedacht ist, kühl und kalkuliert allein zu Gunsten des maximalen persönlichen Vorteils zu entscheiden.
Doch echte Menschen kooperieren, haben Mitgefühl und messen Dingen auch abseits einer Kosten-Nutzen-Logik Wert zu. Trotzdem hat das idealisierte Berechnungsmodell des homo oeconomicus Effekte auf die reale Welt. Der Vorstellungsraum, in dem sich Ökonom*innen bewegen, prägt besonders seit den 1960er-Jahren im Rahmen einer neoliberalen Wende unser Selbst- und Weltverständnis. Wenn wir fundamentale Veränderung wollen, müssen wir diese Denk-Fundamente unserer Gesellschaft kritisch reflektieren und neu bewerten.[7]
Mechanismen und Annahmen, die auf diesem Ideenmodell basieren, gilt es auch in der Architektur zu hinterfragen, während es parallel dazu brancheneigene Mythen aufzubrechen gilt. Gestalter*innen sind Teil der Kommodifizierung von Raum. Wohnen ist längst eine heiß gehandelte Ware, Architektur wird eingesetzt, um Profit zu steigern. Architekt*innen müssen sich nicht nur für oder gegen ein Material entscheiden, sondern auch bewusster mit der Agenda hinter gebautem Raum umgehen. Die Raumgreifung des in global agierenden Real Estate Indices geparkten Kapitals ist eng geknüpft an die Grundrisse und Fassadenstudien, die in Büros über den Tisch gehen – und an die steigenden Mieten, die alle zu spüren bekommen.
Doch Verantwortung dafür zu übernehmen, wofür oder von wem man sich einspannen lässt –faschistische Regime, zwielichtige Investoren, etc. – scheint wenig attraktiv. Kollektiv wird weggeschaut, weil man ja doch froh ist, mal wieder irgendwo ein bombastisches Gebäude hinstellen zu können. Prototypisch für die Ignoranz in der Branche steht eine ganze Generation von Stararchitekten, die, wie Stephan Trüby es nennt, in ihren Rechtfertigungsstrategien „zwischen autohypnotischem Optimismus und Whataboutismus“ changieren. „Die Wiederholung immergleicher rhetorischer Versatzstücke kündet von der Unmöglichkeit, gleichzeitig kritischer Intellektueller zu sein und ein weltweit erfolgreiches Architekturbüro zu führen“, resümierte Trüby kürzlich zu Rem Koolhaas in der NZZ.[8]
Reboot the System
Die Zeit der Stararchitekten ist vorbei. Dennoch prägen die Werke, der Genie-Mythos und die Ideale weiterhin viele Architekturschulen und damit kommende Generationen von Architekt*innen. Von jungen Berufseinsteiger*innen ist zunehmend der Wunsch nach mehr Sinnhaftigkeit im Beruf zu hören. Viele sind enttäuscht von der Realität, die sie in den vielen Stunden vor dem Bildschirm einholt: Das Durchzeichnen von Investorenarchitektur, die nach Schema P (Profitmaximierung) funktioniert. Die Freiheiten der grünen Wiese, die immer noch der Ausgangspunkt vieler Entwurfsstudios ist, scheint Studierende ebenso enttäuscht zurückzulassen. Konkretes Wissen und Handlungsspielräume, die die systemischen Parameter, die Architekturproduktion heute beeinflussen mitdenken, fehlen weithin – sowohl in der Lehre als auch in den Büros. Man kann diese Feststellungen nun als anekdotische Evidenz abtun, oder sich fragen, wie man es anders machen kann.
Die Disziplin „Architektur“ – und damit auch und besonders die Generation der Boomer, die gerade Machtpositionen innehaben – scheint ihre Rolle in der Phase der Transformation, in der wir uns derzeit befinden, noch nicht zu verstehen. Architekt*innen sind immer weniger Entscheidungsträger*innen und stattdessen immer häufiger reine Dienstleister*innen – oft verantwortlich für die Verpackung von Veränderungen, aber ohne strukturelle Macht und Einfluss auf das root problem.
Architektur kann mehr sein als Handlanger. Jenseits des Paradigmas des freien Marktes und emotional aufgeladener Begriffe wie Nachhaltigkeit, Sicherheit, Komfort und Innovation können Architekt*innen die Zukunft aktiv verändern, indem sie Veränderungen denken, planen und bauen. Dabei können sie gesellschaftliche Verhältnisse ordnen und neue Formen des Zusammenlebens ermöglichen. Schon heute finden wir Projekte, Modelle und Systeme solcher alternativer Ordnungen. In ihnen übernehmen Architekt*innen neue Rollen und denken Architektur über das gebaute Objekt hinaus, systemisch und ganzheitlich: in Raum und Zeit, eingebettet in das, was es bereits gibt.
Angesichts neuer Realitäten müssen Architekt*innen neue Werkzeuge, Regeln und Gesetze erdenken, um Entwicklungen zu verstehen, zu beschreiben und ein neues Handeln zu gestalten. Aktiv die eigene Profession neu zu entwerfen ist der erste Schritt. Architekt*innen können sich glücklich schätzen, zählen sie das Imaginieren von Zukünften, das Planen von Möglichkeiten, die es erst noch zu schaffen gilt, doch zu ihren grundlegenden Fähigkeiten. Der Prozess des Neudenkens findet lediglich in einem anderen Maßstab statt. Gestaltungspotenzial gibt es genug.
[1] Vgl. ZDF Magazin Royale: „Sand: Der zweitwichtigste Rohstoff der Welt!“, Sendung vom 09.04.2021, online unter: https://youtu.be/AsvAsB1HDTM
[2] Der Earth Overshoot Day fällt 2021 auf den 29. Juli. Dann hat die Menschheit alle natürlichen Ressourcen aufgebraucht, die die Erde innerhalb eines Jahres wiederherstellen und damit nachhaltig zur Verfügung stellen kann. www.overshootday.org
[3] Haraway, Donna: „A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist Feminism in the Late Twentieth Century“, in: dies.: Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature, New York 1991, 149–181.
[4] Vgl. Global Alliance for Buildings and Construction (Hg.) u. a.: 2020 Global Status Report for Buildings and Construction, 16.12.2020, online unter: globalabc.org/our-work/tracking-progress-global-status-report
[5] Vgl. Latour, Bruno: What protective measures can you think of so we don’t go back to the pre-crisis production model?, 29.03.2020, online unter: www.bruno-latour.fr/sites/default/files/downloads/P-202-AOC-ENGLISH_1.pdf
[6] Eine Initiative von Charlotte Malterre Bartes und Brandlhuber+/bplus.xyz (Olaf Grawert, Angelika Hinterbrandner, Roberta Jurčić und Gregor Zorzi), die für die Notwendigkeit einer drastischen Änderung von Bauprozessen plädiert: die Aussetzung neuer Bauaktivitäten. Im Rahmen einer Reihe von Diskussionsrunden und Veranstaltungen sollen Architekt*innen und Planer*innen, aber auch andere Akteur*innen aus der Industrie, politische Entscheidungsträger*innen und Bürger*innen adressiert werden. Die Rolle des Bauwesens bezüglich anhaltender unhaltbarer ökologischer und sozialer Ungerechtigkeit wird aufgezeigt und neue Handlungsoptionen werden ausgelotet. Mehr Informationen online unter stop.construction
[7] Vgl. Göpel, Maja: Unsere Welt neu denken, Berlin 2020. 56ff.
[8] Trüby, Stephan: „Wem nützt ein Grossprojekt in China? Auch beim Bauen wird um die richtige moralische Haltung gekämpft“, in: NZZ online, 19.08.2021, online unter: www.nzz.ch/feuilleton/der-architektur-unser-zeit-steht-die-hypermoral-ins-haus-ld.1640688
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